Es ist das Problem der modernen Formel 1: Die Technik ist faszinierend, doch das kommt beim Publikum nicht an. Nur wenige Spezialisten können erklären, was sich wirklich in den Antriebseinheiten, beim Fahrwerk oder bei der Aerodynamik im Detail abspielt.
Selbst wenn der Wille da wäre, die Auswirkungen einer Technologie zu erklären, würden die meisten sie nicht verstehen. Ein aktuelles F1-Auto ist um Lichtjahre komplexer als eines von vor zehn Jahren. Den größten Sprung hat die Aerodynamik gemacht. Hier änderte sich der komplette Denkansatz.
Früher haben die Ingenieure darauf geschaut, die Strömung möglichst ungestört vom Frontflügel bis zum Heck zu bringen. Es gab nur bescheidene Ansätze, schlechte Luft von den aerodynamischen Flächen fernzuhalten, die Abtrieb generieren sollten. Heute wird verwirbelte Luft absichtlich erzeugt, um der Strömung ihren Weg von vorne nach hinten aufzuzwingen. So wurde daraus ein Werkzeug.
Am Auto zeigt sich das in einer Vielzahl von Strömungsausrichtern unter der Nase, vor den Kühleinlässen, auf dem Unterboden, am Diffusor und an den Flügeln. Ihre komplizierten Formen lassen erahnen, wie groß der Aufwand ist, mit der Luft zu spielen.
Eigentlich wurde der neue Ansatz der Aerodynamik aus der Not heraus geboren. Seit 2009 gelten für den Frontflügel strenge Vorschriften. Die zentrale Sektion 50 Zentimeter um die Mittelachse ist ein genormtes Brett, das Auftrieb erzeugt. Alles, was sich weiter außen befindet, darf frei gestaltet werden. Genau am Übergang zwischen den beiden Ebenen entsteht der mächtigste Wirbel am ganzen Auto. Die Aerodynamiker gaben ihm den Namen Y250, weil er jeweils 250 Millimeter von der Fahrzeugmitte entsteht.

Luftwirbel dichten Diffusor ab
Besagter Wirbel hat die Eigenschaft, dass er ohne Zähmung unter das Auto strömen und am anderen Ende die Arbeit des Diffusors beeinträchtigen würde. Der ansteigende Teil des Unterbodens braucht mehr als jede andere Fläche am Auto eine saubere und schnelle Strömung. So entstand bereits vor zehn Jahren der erste Gedanke, dem Y250 eine andere Richtung aufzuzwingen.
Zunächst sorgten relativ simple Leitbleche hinter der Vorderachse dafür, den ungeliebten Strahl nach außen abzulenken. Red-Bull-Designer Adrian Newey erkannte als Erster, wie man auch den Diffusor zur Straße hin versiegeln kann. Er lenkte den Auspuffstrahl so, dass er die von den Hinterreifen aufgewirbelte Luft daran hinderte, unter das Auto zu strömen. Als die FIA den Auspuff so positionierte, dass er nicht mehr zweckentfremdet werden konnte, musste eine neue Idee her.
So entstand langsam das Konzept, Luftwirbel zu erzeugen, um andere Luftwirbel zu beeinflussen. Charles Jenckes befasst sich im Haas-Team damit, den Vortex-Strukturen rund um das Auto in mathematischen Modellen ein Bild zu geben. CFD-Software macht Strömung am Bildschirm sichtbar.
In drei Achsen sehen die Aerodynamiker, was die Luft macht, wenn sie auf ihrem Weg nach hinten auf die Strukturen des Autos trifft. Rot bedeutet energiereiche Luft, die man zur Erzeugung von Abtrieb nutzen kann. Blau sind Turbulenzen, die der Aerodynamiker verschwinden lassen will. Sie sind für ihn eine verlorene Region.
Nur die Hälfte der schädlichen Wirbel entsteht automatisch. Die andere Hälfte wird mit voller Absicht generiert. Jenckes erklärt am Y250-Wirbel, worum es den Aerodynamikern dabei geht: „Der ist aufgrund der Frontflügel-Architektur einfach da. Du kannst nur versuchen, ihn so zu positionieren, dass er möglichst wenig stört, oder ihn in eine Richtung zu lenken, wo du ihn anderweitig nutzen kannst. Jede aerodynamische Struktur erzeugt am Anfang und am Ende der Fläche durch den Druckunterschied von oben nach unten einen Wirbel. Wir versuchen, diese Vortex-Strukturen so zu lenken, dass sie an anderer Stelle helfen, Abtrieb zu gewinnen.“
Reifen sorgen für Aero-Dilemma
Die sauberste Luft brauchen die Flügel und der Diffusor. Da der Diffusor nur 175 Millimeter über dem Boden und am Ende des Autos liegt, kann die Strömung dort nie komplett sauber sein, weil von vorne zu viel schlechte Luft ankommt.
Nach dem Frontflügel selbst stellen die Vorderreifen das erste große Problem dar. Die CFD-Animation in der Galerie zeigt, wie rund um die Räder und aus den Felgenlöchern raus eine dicke blaue Wolke entsteht. Hier wird der Y250-Wirbel zum ersten Mal dazu genutzt, die Turbulenzen nach außen abzudrängen. Das geht natürlich nur, wenn der Y250 vorher schon in die entsprechende Richtung umdirigiert wurde.
Am liebsten würden die Ingenieure verwirbelte Luft direkt am Entstehungsort attackieren. Bis 2018 ging das im Frontbereich noch. Doch die neue Frontflügel-Regel für 2019 hat den Aerodynamikern das Leben schwergemacht. Sie verbietet Strömungsausrichter unter den Flügelelementen und sämtliche Aufbauten.
Auch die kontrollierte Luftdurchleitung durch die Vorderachse als Abfangjäger für schlechte Strömung wurde untersagt. Damit können die Aerodynamiker die frühen Wirbel erst unter der Nase abfangen. „Bis dahin haben sie aber schon unkontrolliert gestreut und sind viel schwerer wieder einzufangen“, erklärt Racing-Point-Technikdirektor Andy Green.
Dieses Dirigieren der Luftwirbel funktioniert so, dass man rundherum Zonen von Unterdruck kreiert. „Wir machen uns dabei das Gesetz zunutze, dass sich Zonen mit hohem Luftdruck automatisch Richtung der Niedrigdruckzonen bewegen“, verrät Jenckes. Mit diesem Hintergrundwissen dämmert einem, warum die unter oder neben dem Auto montierten Strukturen an Strömungsausrichtern oder die eng gestaffelten Schlitze im Unterboden so filigran sein müssen.

Wirbel werden durch Flügelchen angefüttert
Jenckes versucht es mit einer Analogie: „Hier gilt das gleiche Prinzip wie bei einem Flügel. Je mehr Elemente du hast, desto mehr Abtrieb kannst du erzeugen. Weil du die Strömung immer wieder anfütterst. Bei den komplizierten Vortex-Generatoren vor den Seitenkästen gilt der gleiche Grundsatz: Je mehr Elemente nebeneinander, desto besser kannst du die Richtung der Wirbel bestimmen.“
Die Hinterräder sind ein weiterer Problemfall. Sie erzeugen durch die Drehung und Verformung jede Menge schlechter Luft. Die Slots im Boden und die vertikalen Finnen vor den Hinterrädern sorgen für die Versiegelung an der Kontaktfläche zwischen Reifen und Straße.
Selbst am Heckflügel werden noch künstlich Wirbelschleppen erzeugt, obwohl dahinter nichts mehr kommt. Die Schlitze und Fransen in den Endplatten reduzieren die Turbulenzen, die am Übergang zwischen Flügel und vertikaler Endplatte entstehen. Das senkt den Luftwiderstand.
Das Spiel mit der Luft beginnt damit, dass sich die Aerodynamiker ihre Gedanken machen, wo sie die Wirbelschleppen gerne haben möchten. Aus einer groben Idee, wie die Architektur der Strömungsausrichter aussehen soll, arbeitet man sich in der CFD-Simulation in kleinen Schritten an jene verschachtelten Strukturen heran, die wir am Auto zu Gesicht bekommen.
Die Sichtbarmachung der Strömung hilft den Ingenieuren beim Verständnis. Nur die vielversprechenden Ideen schaffen es dann in den Windkanal. Das Modell muss regelmäßig mit Fahrdaten abgeglichen werden. Dafür montieren die Teams von Zeit zu Zeit Stau-druckgitter an das echte Auto.

Top-Teams mit besseren Rechenmodellen
Haas ist 2019 genau in diese Falle gelaufen. Der US-Ferrari hatte vorne zu viel, hinten zu wenig Abtrieb, weil auf dem Weg zum Heck zu viel verloren ging. Die Amerikaner waren ein Opfer der neuen Frontflügel-Regel. Auch Red Bull verlief sich im Irrgarten der Aerodynamik, fand aber nach acht Rennen wieder heraus – Kunststück bei viermal so vielen Angestellten.
Das Problem liegt darin, dass CFD-Läufe und Windkanalzeit vom Reglement beschränkt sind. Die Aerodynamiker arbeiten in der Simulation zunächst mit einem stationären Auto. Die Kunst ist es, dessen Bewegungen in ein Rechenmodell fließen zu lassen, das der Realität möglichst nahekommt.
Genau da ist die eine Sekunde versteckt, die Mercedes, Ferrari und Red Bull vom Rest des Feldes trennt. Ihre dynamischen Modelle liegen viel näher an der Wirklichkeit. Ein ganz entscheidender Punkt sind die Reifen, die sich im Fahrbetrieb ständig verformen. Da gerade von ihnen die schlimmsten Turbulenzen ausgehen, ist es umso wichtiger, diese auch richtig zu verstehen und in der CFD-Simulation darzustellen.
Das war auch der Ansatzpunkt der FIA, um das aerodynamische Wettrüsten ab 2021 auf eine einfachere Basis zu stellen. „Wir wollen den Aerodynamikern die Werkzeuge wegnehmen, mit denen sie die Strömung kontrollieren. Zwei neue Tunnel unter dem Auto generieren Abtrieb, der weniger sensibel auf die Qualität der Strömung reagiert, die dort ankommt“, verteidigt FIA-Technikchef Nikolas Tombazis das Zukunftskonzept.
Das 2021er-Auto hat simplere Flügelformen, keine Leitbleche, voll verkleidete Räder und einen riesigen Diffusor, der von den Kühleinlässen bis zum Heck reicht. Jenckes bestätigt: „Diese Struktur kommt mit weniger energiereicher Luft im Verkehr besser klar als die jetzigen Autos.“ Heute hat ein Auto eine Wagenlänge hinter einem anderen nur 55 Prozent des Abtriebs. Nach den Windkanalversuchen der FIA sollen es mit den neuen Autos immerhin 86 Prozent sein.