Ein unscheinbarer Container steht am Rande der Teststrecke, doch der hat es buchstäblich in sich. Hier inmitten des weitläufigen Betriebsgeländes von ZF in Friedrichshafen, geschützt vor neugierigen Blicken, tauschen sich die Ingenieure zwischen den Testläufen aus, analysieren Daten, stimmen Prüfparameter ab. Doch aktuell steht der Journalist „auf dem Prüfstand“, dem die Entwickler in Kürze einen sündhaft teuren Prototyp überlassen sollen. Ein halbstündiges Briefing weiht in die Besonderheiten des draußen parkenden Zukunftsprojekts ein.
Geballte Technik
as Vision Zero Vehicle sieht dabei trotz der Rundumbeklebung so unauffällig aus, dass man den blauen VW Touran eher auf einem Supermarktparkplatz vermuten würde als auf einem geheimen Testgelände. Doch der Eindruck täuscht: Praktisch die gesamte Technik unter dem Van-Kleid wurde ausgetauscht, das Versuchsmodell ist ein bedarfsweise voll autonom fahrendes Elektroauto mit einer ganzen Armada an Assistenzsystemen.
Doch – und das ist die zweite Überraschung nach dem Einsteigen – nichts an ihm sieht so aus, wie man sich das landläufig vorstellt: keine wild verlegten Kabel, keine Messinstrumente, keine herausoperierten Komponenten. Der Innenraum mit dem riesigen hochkant montierten Bediendisplay wirkt wie in einem ganz normalen Großserienmodell. Darauf haben die ZF-Ingenieure großen Wert gelegt, denn tatsächlich ist der größte Teil der im Erprobungsfahrzeug verbauten Technik serienreif und wird den weltweiten Kunden aus der Automobilindustrie angeboten. Die Kombination der diversen Antriebs- und Assistenzsysteme ist das Besondere, das aus dem braven Kompakt-Van die Vision Zero macht: keine (lokalen) Emissionen mehr, keine schweren Verkehrsunfälle in Zukunft.
Die Entscheidung für den Touran war naheliegend, wie Projektleiter Dr. Steffen Jung erklärt. „Die Unfallzahl auf null zu bringen ist ein Ziel, das auch und in erster Linie Familien im Straßenverkehr zugutekommen soll“, so der Entwicklungsingenieur. Rund 18 Monate lang haben über 100 Mitarbeiter an zehn nationalen wie internationalen ZF-Standorten am Projekt gearbeitet, das zur IAA 2017 dem Publikum präsentiert wurde.
Einer der Stars im Vision Zero Vehicle heißt auch so: mSTARS nennt ZF das modulare Hinterachssystem, das in verschiedenen Konfigurationen bereits bei einigen Automobilherstellern in der Serienfertigung ist. Das als Baukasten ausgelegte System erlaubt je nach Anwendung den Einsatz als Antriebs- oder als passive Achse. Das mSTARS-Modul (modular Semi-Trailing Arm Rear Suspension), typischerweise ausgelegt für Autos der Mittel- und Oberklasse, erlaubt jedoch noch weitere Varianten.
Flexibles Achsmodul
Neben dem konventionellen Antrieb über ein Achsdifferenzial per Verbrennungsmotor lässt sich mSTARS wahlweise mit einem eigenständigen Elektroantrieb in verschiedenen Leistungsstufen ausrüsten. Im Fall des Vision Zero Vehicle kommt ein Elektromotor mit 150 kW zum Einsatz, der sich gemeinsam mit der notwendigen Leistungselektronik und einem integrierten Getriebe kompakt in das Achsmodul schmiegt. Flankiert wird er von verstellbaren Rädern, denn mSTARS kann auch lenken, und zwar „by wire“ mit elektrischer Betätigung und damit praktisch unbegrenzten Möglichkeiten. Wie unbegrenzt, führt Entwicklungsingenieur Johannes Paas gleich vor, der auf der Einführungsrunde selbst hinter dem Steuer sitzt. Die lenkende Hinterachse kann nicht nur den Wendekreis beim Einparken minimieren oder die Fahrdynamik in Kurven verbessern. Bis zu acht Grad können die Hinterräder in beide Richtungen einschlagen. Das klingt nach wenig, ist in der Praxis aber ein enormer Wert. Besonders spektakulär ist der „Krebsgang“, bei dem Vorder- und Hinterräder parallel eingeschlagen werden. Beim Vision Zero ist das zusätzlich über den Drehregler auf der Mittelkonsole möglich, der als Lenkradersatz genutzt werden kann.
Automatisiert unterwegs
Der Parallel-Lauf ist mehr als ein Gimmick. Bei ZF sieht man in dieser Lenkspielart vor allem im autonomen Betrieb eine weitere Komfortverbesserung, wenn das vorausschauende Fahrzeug beispielsweise einem Schlagloch ausweicht, ohne die Besatzung mit Fliehkräften zu belästigen. Denn „autonom“ ist das zweite Stichwort zum Vision Zero Vehicle. Bereits jetzt ist der Prototyp zum automatisierten Fahren auf Level 3 fähig, was den Fahrer in vielen Verkehrssituationen entlasten und vor allem auch schützen kann. Über Radar, Kamera- und GPS-Sensorik erfasst der Wagen sein Umfeld und reagiert entsprechend. Ein Kernproblem im heutigen Verkehr und Ursache für zum Teil schwerste Unfälle ist die Ablenkung am Steuer. Sei es der Blick auf das Smartphone oder die Bedienung des Multimediasystems – ein kurzer „Blindflug“ kann verheerende Folgen haben. Mit diesem Problem beschäftigt sich der Driver Distraction Assist: Ein dreidimensional „sehendes“ Kamerasystem überprüft Kopfhaltung und Blickrichtung des Fahrers, bei Bedarf warnt die Elektronik und schreitet dann ein.
Kollege Computer übernimmt
Beeindruckend an der geballten Assistenzarmada ist dabei vor allem, wie schnell die Gewöhnung verläuft und Vertrauen zur Technik gefasst wird. Waren die ersten Meter auf der Teststrecke noch von leichter Nervosität und ständiger Eingreifbereitschaft geprägt, bereitet es nach einigen Runden kein Problem mehr, dem Vision Zero Vehicle das Steuer zu überlassen. Ein absichtlich zum Beifahrer gerichteter Blick soll das System herausfordern. Es reagiert jedoch unbestechlich, warnt erst verhalten, dann akut und greift schließlich ein.
Noch nachdrücklicher wird das Vision Zero Vehicle beim nächsten Versuch – wir steuern auf eine simulierte Autobahnausfahrt auf dem Testgelände zu. Unfälle durch sogenannte Geisterfahrer sind in der Gesamtzahl zwar vergleichsweise selten, enden jedoch oft mit schwersten Folgen. Mit dem „Wrong-way Inhibit“-Assistenten könnten sie jedoch bald der Vergangenheit angehören. Denn beim unverminderten Zuhalten auf die falsche Fahrtrichtung wird eine Kaskade von Reaktionen in Gang gesetzt: Warntöne, ein energisches Ruckeln zunächst an den Sicherheitsgurten und dann mit Gegenlenkimpulsen im Lenkrad sollten eigentlich genügen. Ignoriert der Fahrer aber die unmissverständlichen Warnungen, übernimmt der Computer, bremst auf Schrittgeschwindigkeit ab, lenkt an den rechten Fahrbahnrand, schaltet den Warnblinker ein und hält den Wagen schließlich an – Gefahr gebannt.
Fazit: Zukunft jetzt
Die Wahl eines VW Touran als Versuchsträger für das Vision Zero Vehicle hat auch Signalwirkung. Statt eines futuristischen Prototyps oder einer hochpreisigen Oberklasse-Limousine signalisiert der Van schon von außen Normalität und Alltagstauglichkeit – genau das, was die Kombination und Vernetzung der verschiedenen Systeme erreichen soll: mehr Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer. Neben den verblüffend gut funktionierenden Assistenz- und Sicherheitssystemen ist das mSTARS-Hinterachsmodul das zweite Highlight des Erprobungsfahrzeugs. Der energische, direkte und lautlose Antritt des 150-kW-Motors überrascht im Ambiente des Familienvielsitzers. Und die stufenlos ansteuerbare Hinterachslenkung erlaubt spektakuläre Fahrmanöver.