Zur See fahren, plündern und brandschatzen, das geht auf Dauer auf die Knochen. Irgendwann waren die Wikinger zu müde, um auf den Wiking zu gehen. Die Nordmänner lernten, dass sich der Rest der Welt auch wunderbar legal berauben lässt, sie wurden Händler. Und lange, bevor das Internet erfunden war, brachten sie sich auch bei, dass sich der Mensch auch prima von zu Hause aus betuppen lässt. Und so stehen sie da, 217 Besatzungen in bunt beklebten Autos, die dachten, sie träten zur Mitternachtssonnen-Rallye an, doch plötzlich bricht in Jönköping die Dunkelheit herein. Per Carlsson lächelt. „Na ja, jetzt ist es Mitte Juli und schon ein bisschen spät für die Mitternachtssonne, außerdem sind wir dafür viel zu weit südlich“, erklärt der Cheforganisator ohne jede Reue.
Ein Volvo-Händler erfand die Mitternachtssonnen-Rallye
Zugegeben, es war nicht immer schon Betrug. Ernst Nilsson war 1950 nicht nur der größte Volvo-Händler in Skandinavien, er war auch Vorstandsmitglied im Königlich Schwedischen Automobilclub KAK. Inspiriert von den Monegassen, die ihre Sauregurkenzeit im Fürstentum mit der Rallye Monte Carlo überbrückten, wollte Nilsson der Welt seine Heimat als Urlaubsziel schmackhaft machen. So erfand er die Mitternachtssonnen- Rallye, bei der die Teilnehmer auf immerhin 2250 Kilometern reichlich Gelegenheit hatten, die Schönheit der Gegend zu bewundern.
Die Teilnehmer waren allerdings zuvorderst Einheimische, und da die Nordmänner aus hartem Holz geschnitzt sind, maulten sie schon nach der Premiere, die ganze Sache müsste viel härter sein. Also bretterte man bei der zweiten Ausgabe schon über 2700 Kilometer weit bis ganz oben nach Kiruna, wo im Sommer die Sonne nie untergeht. Natürlich gab es auch Ruhepausen, aber man fand, dass insgesamt drei Stunden dafür ausreichen müssten. 1953 war die Rallye mit 3500 Kilometern länger als ihr Vorbild in Monte Carlo. Im Herbst 1964 entschied der KAK, die Rallye in den Winter zu verlegen. Für die "Midnattssolsrallyt" ging die Sonne für lange Zeit unter.
Im Juli 2010 sitzt Reinhard Hainbach in einer Kfz- Montagehalle und isst Fleischbällchen. Er ist einer von den Betrogenen. Seit der KAK 2006 die legendäre Jagd unter der Mitternachtssonne als historische Rallye wieder aufleben ließ, muss der Besucher schon mit diversen Gläsern Starköl selbst dafür sorgen, dass die Nacht zum Tage wird. Das Seltsame ist aber, dass Hainbach kein bisschen sauer ist ob der arglistigen Täuschung. Der Hesse ist der einzige Deutsche im regulären Rallyefeld und schwärmt: „Die Strecken sind so gut, dass ich im Vorjahr mit einem einzigen Reifensatz ausgekommen bin.“ Der Engländer Steve Perez hat sich mit seinem Stratos vom schwedischen Beifahrer Staffan Pamander anlocken lassen und verkündet: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auf der Welt schönere Schotterprüfungen gibt, nicht mal in Neuseeland.“
Reinhard Hainbach ließ sich von Per Carlsson schon zum zweiten Mal nach Värmland lotsen, um sich von den Einheimischen ordentlich vertrimmen zu lassen. 2009 ist er 25. geworden, dieses Mal lief er auf Rang 18 ein. Der Mann aus Schotten bleibt demütig: „Es wäre ja vermessen, wenn wir als Deutsche nach Schweden kämen und denen um die Ohren fahren würden.“ Hainbach ist alles andere als ein Lutscher. 1979 war er Deutscher Rallyemeister - das Jahr, in dem die Fahrer-WM zum ersten Mal ausgeschrieben war, die der Schwede Björn Waldegaard gewann.
Der schaut ein bisschen verdrießlich. Auf WP vier steckte das Getriebe im zweiten Gang fest. Jetzt wird gewechselt. Seit der Wiederbelebung hat er diese Rallye in vier Anläufen drei Mal gewonnen. Er ist jetzt 62, geht ein bisschen gebeugter als früher, ist aber immer noch ein Baum von Kerl. 280 PS hat sein Escort heute, als er mit dem Mark II 1979 Weltmeister wurde, waren allenfalls 240 PS aufgeboten.
„Nicht schlecht für einen alten Mann“, sagt er über seine Maschine. Aber bei drei Minuten Zeitverlust leidet der Genuss. Waldegaard war schon damals in einem Käfer dabei, als sie bis Kiruna fuhren. Dann gewann er zwei Mal die Monte im Porsche, harte Arbeit damals. „Der Porsche verzeiht keine Fehler, der Escort macht mehr Spaß. Aber ehrlich gesagt, nur so zum Spaß würde ich das hier nicht machen.“
Ein Gruppe-4-Quattro muss zuerst leiden
Das sieht auch Schwedens zweite Rallyelegende so. Stig Blomqvist mag am liebsten gar nicht drüber reden. Es gibt ohnehin reichlich Zeitzeugen, die behaupten, Stig mochte noch nie überhaupt über irgendwas gerne reden. Jetzt gäbe es viel zu sagen über die Wehwehchen, unter denen sein Gruppe-4-Quattro leidet. Blomqvist, mit Audi 1984 Weltmeister, hatte die Ehre, als Erster über die Pisten zu toben, bis eben nur noch Schleichfahrt angesagt war. „Das Auto ist schon ziemlich genau auf dem Stand von 1982, nur war die Qualität damals besser.“ Der Ladeluftschlauch fällt dauernd ab. Stig, König der Linksbremser, lieferte auf den wenigen Prüfungen eine Show, die jeden Zeugen schwören lässt, dass das notorische Untersteuern eines starren Allradantriebs eine üble Propagandalüge der Hecktrieblerfraktion sei.
Es ist eine Menge Volk gekommen, um Blomqvist und Waldegaard zu sehen. Schweden leidet wie Deutschland darunter, dass seit den Achtzigern kein ganz Großer mehr auftauchte. Und wie beim Röhrl ziehen die Senioren immer noch Zigtausende aufs Land. Der moderne schwedische WM-Lauf ist kaum besser besucht.
An Nachwuchs mangelt es nicht
Es mangelt auch nicht an Nachwuchs. Per Gunnar Andersson ist gekommen. Verbal wird die gelbblaue Nachwuchshoffnung liebevoll an den Initialen gepackt, „Pie Gie“ ist mit seinem wilden Fahrstil ein Publikumsliebling. „Ich lasse es ruhig angehen“, versucht er die Erwartungshaltung zu bremsen. Er kennt schließlich das Auto nicht, ein liebevoll restaurierter Escort Mark I. Zudem sitzt der Besitzer des Kleinods auf dem Beifahrersitz. Mit dem Schweiß eines Nachwuchsstars im Sitz, hofft er sein Auto nach der Rallye teuer zu verkaufen. Auf dem Papier ist der Hundeknochen-Escort gegen die jüngeren Mark II chancenlos. Papier ist geduldig, Andersson ist es nicht. Nach wildem Ritt in vordersten Positionen wirft er das Auto auf der letzten Prüfung der ersten Etappe vor einen Baum. Schwerer Frontschaden, lautet die spontane Diagnose. Immer noch kein Grund nicht weiterzufahren, aber leider findet sich im Service-Truck keine neue Windschutzscheibe.
Auf der Mitternachtssonnen-Rallye geht es sportlich zu
Auch wenn die großen Namen für den Sieg nicht in Frage kommen, leidet die Show keineswegs. Dazu sei kurz ausgeführt, dass historische Gleichmäßigkeitsfahrten in Schweden weitgehend verpönt sind. Es wird so schnell gefahren wie möglich, alles andere ist Pipifax. Es gibt durchaus eine Gleichmäßigkeits-Wertung, die vorwiegend von Norwegern dominiert wird, wo richtige Rallyes lange verboten waren. Aber auch im Reich der Schnitttabellen geht es in Schweden sportlich zu.
Reinhard Brembach meint: „Auf der ersten WP musstest du voll reinhalten, trotzdem bist du am Ende sieben Sekunden über der Zeit.“ Brembach hat ein Sommerhaus in Schweden. Mit Beifahrer Helmut Putsch ist er schon zum vierten Mal am Start. „Wann kannst du schon mal Stig Blomqvist die Hand geben?“ fragt er. Die Nennliste wird jährlich nach rund drei Wochen wegen Überfüllung geschlossen. Auch der Gleichmäßigkeits-Wettbewerb ist im Aufwind. „2009 hatten wir 40 Starter, dieses Jahr waren es schon 50“, sagt Per Carlsson.
Einer lässt es besonders krachen
Bei der Vollgasabteilung lässt es keiner so krachen wie Kenneth Bäcklund. Die Legende sagt, wenn in Südschweden die rechtschaffenen Menschen in die Christmette gingen oder unterm Weihnachtsbaum saßen, dann tobte Familie Bäcklund über die verschneiten Landstraßen, weil die an Heiligabend immer so schön leer waren. Jetzt steht er vor dem alten Saab-Werk in Trollhättan und versucht, seine überragenden Zeiten zu erklären. „Ich kenne diese Pisten wirklich sehr gut, und außerdem bin ich ja kein Anfänger.“ Bäcklund ist seit Ewigkeiten Cheftestfahrer bei Saab.
Die Strecken der Rallye Mitternachtssonne sind eigentlich geheim. Reinhard Hainbach ist nicht der einzige, der vermutet, dass es tief in den Ritzen der schwedischen Beifahrersitze propere Streckenaufschriebe gibt. „Wenn früher die Schweden zur Köln - Ahrweiler kamen, haben wir es mit denen genauso gemacht“, sagt er. Wie Steve Perez hätte er gern künftig einen Aufschrieb vom Veranstalter. Per Carlsson lehnt ab: „Ich will, dass das Tempo nicht zu hoch wird.“
Das Publikum kommt auf ihre Kosten
Zur Ehrenrettung der Eingeborenen sei gesagt, dass selbst Bäcklund sich das eine oder andere Mal eindrehte. Es ist der Klassiker: Du weißt nicht genau, wie spitz die Spitzkehre ist, und weil der natürliche Feind des Rallyefahrers Untersteuern ist, wird beim Einlenken lieber noch mal kräftig Gas gegeben, um das Heck schön instabil zu halten. Bei der Mitternachtssonne kann das Publikum auch bei den hinteren Startnummer noch auf eine schöne Einlage hoffen.
Drei Rentner, mit Strohhut und Turnschuhen, sind extra aus Säffle angereist, um PG Andersson zu sehen. Jetzt, wo der längst raus ist, sitzt der eine mit Kreuzworträtselheft auf dem Campingstuhl am Außenrand einer langen Kehre. Er hockt schon eine Stunde da, mehr als sechs Wörter hat er nicht geschafft, die Ablenkung ist zu groß, wenn Per Göransson seinen mächtigen Falcon um die Ecke wuchtet oder Claes Molin sich mit seinem Porsche eindreht und dabei ganz sanft mit der Stoßstange die Adresse von Familie Skalmetan ändert, deren Briefkasten genau im Scheitel am Abzweig steht. Der Briefträger hat die Post bisher immer an der Straße nach Rörkärr eingeworfen, ab Montag muss er das an der Straße nach Knarnbraten tun.
Als Kenneth Bäcklund als Sieger im Ziel in Färjestad einläuft, fragt der Streckensprecher. „Bist du froh, dass du es hinter dir hast?“ Der winkt ab: „Ach was, ich könnte noch Wochen so weiterfahren.“ Das geht auch Reinhard Heinbach so. Er will wiederkommen, aber nächstes Mal mit einem 30 PS stärkeren Querstrommotor, um den Wikingern beizukommen. Hoffentlich ist dann das Wetter wieder so schön. Die Sonne schien pausenlos - natürlich nur tagsüber.
Wer übrigens den skandinavischen Hang zur Gaunerei für üble Nachrede hält, muss sich belehren lassen, dass die Vorspielung falscher Tatsachen eine jahrtausende alte Tradition in Skandinavien hat. Erik der Rote zeugte nicht nur einen berühmten Sohn, der Amerika entdeckte, sondern gründete nach Zwangsausweisung aus Island wegen Nachbarschaftsstreitigkeiten mit Todesfolge auch eine neue Kolonie weiter westlich, die er „das grüne Land“ taufte, um weitere Siedler auf das neu entdeckte Eiland zu locken. Dabei war das besagte „Grönland“ schon im Jahr 1000 zu weit über 90 Prozent von Eis bedeckt.
Tips für Zuschauer
Dreh-und Angelpunkt der Rallye Mitternachtsonne ist Västereäs in Südschweden. Die drei Etappen vom 14. bis zum 16. Juli führen zunächst in Richtung Karlstad, dann nördlich von Stockholm Richtung Uppsalla und schließlich in Richtung Nörrköping. 175 Starter fahren Vollgas, weitere 50 treten in der Gleichmäßigkeitswertung an. Die Stars sind die schwedischen Ex-Weltmeister Björn Waldegaard und Stig Blomqvist in zwei Porsche 911 des Briten Francis Tuthill. Ein weiterer prominenter Gast ist der schwedische Indy-500-Sieger Kenny Bräck in einem Ford Escort Mark II von Mark Solloway. Rainhard Hainbach hat seinen Ascona mit einem Querstrommotor aufgerüstet. Eines der Glanzlichter der Gleichmäßigkeitswertung ist der Rolls-Royce, mit dem Queen Elisabteh II einst die Bahamas bereiste. Die Anreise empfiehlt sich über Dänemark und die Öresundbrücke oder Flug bis Stockholm und Mietwagen. Weitere Infos gibt es auf www. midnattsolsrallye.com