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Fahrbericht Nio ES6
Der China-E-Tron hat 544 PS

Mit dem ES6 zeigt der chinesische E-Autohersteller Nio dem Rest der Welt die lange Nase. Viel Leistung, eine gute Qualität und Mut zu einer längst abgeschriebenen Technologie lassen auf eine spannende Zukunft hoffen.

Nio ES6
Foto: Nio ES6

In China, so heißt es, gibt es rund 300 neue Automobilhersteller für reine Elektrofahrzeuge. Die meisten von ihnen existieren vor allem in den Köpfen ihrer Gründer oder im Internet. Keine Gefahr also für die deutsche Autoindustrie. Der Hersteller Nio hingegen lässt seit geraumer Zeit selbst die ganz Großen aufmerksam werden. Nicht ohne Grund investierte Volkswagen reichlich Geld und Manpower in die Pulverisierung des lange ungebrochenen Rundenrekords für Elektrofahrzeuge auf der Nordschleife – aufgestellt vom Nio EP9. Einem Supersportler, den es, anders als den VW ID.R, sogar in 16-facher Ausgabe zum Stückpreis von rund 1,5 Millionen Euro zu kaufen gibt. Es folgten der siebensitzige SUV ES8 und nun das fünfsitzige, etwas kürzere Modell ES6.

Unsere Highlights

Die Scheinwerfer zu Schlitzen geschärft und ein Logo, das wie ein sehr weich gezeichneter Doppelwinkel aussieht – beim ersten flüchtigen Blick auf die Front des bis zu 544 PS starken (400 kW) SUV könnte man meinen, da rolle ein neuer Citroën Aircross an. Der Rest der Front sieht allerdings deutlich anders aus, vom Heck ganz zu schweigen. Der Nio ES6 ist jedenfalls keine der billigen China-Kopien.

Nio ES6
Nio ES6
Das Cockpit des Nio ES6 wirkt edel und aufgeräumt.

Alltagstauglichkeit bis ins Details

Ganz im Gegenteil. Der Innenraum wirkt nicht nur im ersten Moment edel, sorgfältig verarbeitet und gut durchdacht. Es sind vor allem die vielen Details, die so manchen Europäer an der groß kommunizierten Kundenorientierung des Herstellers ihres heimischen Automobils zweifeln lassen. Beispiel gefällig? Der Schminkspiegel ist einer der größten seiner Art. Auf ein Handschuhfach wird zugunsten der Kniefreiheit gänzlich verzichtet – und mal Hand aufs Herz, wer würde es vermissen? Neben dem Platzgewinn beim Knieraum sorgt eine ausfahrbare Beinauflage für ein königliches Gefühl auf dem Beifahrersitz. Nio spricht offiziell vom Lounge-Seat, inoffiziell wird er gern auch als Queen-Seat bezeichnet. "Ein King-Seat wird folgen, sobald wir das autonome Fahren Level 4 inklusive zurückfahrendem Lenkrad entwickelt haben", heißt es seitens Nio. Die Alltagstauglichkeit runden vier USB-Ports, eine Schale zum induktiven Laden von Smartphones sowie ein Kofferraumvolumen von 672 bis 1.433 Litern ab.

Nio ES6
Marcel Sommer
Die kleine Kugel Nomi ist eigentlich nichts anderes als eine Sprachsteuerung in Form einer Kugel.

Hinzu kommen belüftete Sitze (Luft wird angesaugt und nicht ausgeblasen) und eine dreistufige Luftfederung, die einen Easy-Entry ermöglicht, was bei Nio bedeutet, dass sich das Fahrzeug beim Öffnen um fünf Zentimeter absenkt. Die Luftfederung sorgt zudem für eine Absenkung des Fahrwerks um zwei Zentimeter, sollte der Fahrer sich für den Sportmodus entschieden haben. Die vier Kameras hinter der Frontscheibe inklusive Dashcam zur Unfallrekonstruierung bieten im Zusammenspiel mit der Rundumsensorik die ersten Schritte hin zum vollständig autonomen Einparken. Aktuell müssen noch das Brems- und das Strompedal sowie die Fahrstufenwahl bedient werden. Der Ton, der bis Tempo 30 per Lautsprecher nach außen geschallt wird, muss nicht extra aktiviert werden. Gleiches gilt für die stets nette Begleitung namens Nomi. Sie lauscht immer mit und ist eigentlich nichts anderes als eine zur Kugel gewordene Sprachsteuerung mit digitalen Augen, die unter anderem auf Wunsch die Massagefunktion der Sitze aktivieren kann. Aktuell nimmt sie leider nur chinesische Befehle an. Weitere Sprachen sollen aber folgen.

In fünf Jahren könnte Nio nach Europa kommen

Die Sitze fühlen sich in beiden Reihen sehr gut und bequem an, die Kopffreiheit ist so großzügig wie der Bildschirm mit 11,3 Zoll Diagonale und 1.600 mal 1.400 Pixel. Darauf lässt sich schon mal mit einem Film vom nächsten Stau ablenken. Dabei fährt sich der 4,85 Meter lange Chinese auch abseits von zähem Verkehr prima: Na gut, sein Gewicht von exakt 2.345 Kilogramm erschwert das Abbremsen ein wenig. Aber weder in schnell gefahrenen Kurven noch beim starken Herausbeschleunigen gibt er sich eine Blöße. Die 544 PS sowie die 725 Newtonmeter Drehmoment packen fein dosiert an allen vier Rädern an, ohne am Lenkrad zu reißen oder nach Traktion zu suchen. Hier dreht kein Rad unnötig durch, was sich in einer ordentlichen Sprintzeit von 4,7 Sekunden niederschlägt. Erstaunlich ist dabei die enorme Laufruhe. Keine störenden Windgeräusche oder gar Abrollgeräusche sind zu vernehmen. Der Nio fährt unaufgeregt leise. Selbst die Lenkung gibt keinen Grund zu Meckern. Im Sportmodus ist sie etwas direkter abgestimmt und verlangt dem Fahrer ein wenig mehr Muskeleinsatz ab. Im Normal- und Ecomodus ist sie leichtgängig, ohne es dabei an der benötigten Präzision vermissen zu lassen.

Die Höchstgeschwindigkeit von 200 Kilometern pro Stunde spielte nur für den deutschen Markt eine Rolle. Und weil Nio in den kommenden fünf Jahren sicher nicht auf den deutschen Markt kommen wird, eigentlich gar keine. Was nicht heißt, dass Nio nicht vorhat, überhaupt nach Europa zu kommen. Aktuell plant Nio allerdings vor allem für den Heimatmarkt – mit zwei Werken, die auf eine Gesamtproduktionsleistung von 500.000 Einheiten pro Jahr ausgelegt sind. Bis die ausgelastet sind, kann es noch ein paar Jahre dauern.

Zurück ins Auto. Beim topmotorisierten Modell in der Premier Edition für 498.000 chinesischen Yuan (RMB), umgerechnet 66.000 Euro (ohne Steuern) sorgt der enorme Antritt für ein spontanes Grinsen. Die gewaltige Sprintstärke raubt einem im Wortsinne den Atem, die Straße vor dem Fahrer wirkt plötzlich viel schmaler. Wer auf diese Art der E-Auto-Faszination öfter verzichtet, kommt vielleicht in die Nähe der in Aussicht gestellten Reichweite von bis zu 510 Kilometer. Dann ist allerdings die um 14 kWh größere und 6.600 Euro teure 84 kWh-Batterie an Bord. Ab Werk stehen 70 kWh für 430 Kilometer zur Verfügung. Das Aufladen soll laut Nio am heimischen Homecharger elf Stunden, an der Schnellladesäule eine Stunde dauern. Derzeit sollen mehr als 40.000 dieser Schnellladestationen in China zu finden sein. Des Weiteren praktiziert Nio (in China) auch den Akkuwechsel an entsprechenden Stationen und bietet eine Vor-Ort-Nachladung per angefordertem Batterie-Truck an.

91 Prozent des Chassis bestehen aus Aluminium

Nio ES6
Nio ES6
Bis zu 21 Zoll große Räder können bei Nio für den ES6 geordert werden.

Fallen die Unterschiede zwischen der 47.000 Euro teuren Standard Version und der Performance beziehungsweise Premier Edition im Innenraum schon gering auf, sucht der Laie sich an der Außenhaut graue Haare. Die Auflösung: Ein schmaler Balken unterhalb der Typbezeichnung links am Heck mit der Aufschrift Premier Edition. Der in Vollbesetzung maximal 2,8 Tonnen schwere Nio ES6 könnte sich natürlich auch zum Ziehen eines Anhängers anbieten. Pferdeliebhaber müssen jetzt starkt sein, denn das ist unmöglich. Die Gründe liegen auf der Hand. In China sind Anhänger überhaupt nicht gefragt und die Umbaumaßnahmen am Heck des zu 91 Prozent aus Aluminium und zwei Quadratmetern Karbon bestehenden Chassis wären zu umfangreich.

Fazit

Am Nio ES6 stört allenfalls, dass er die nächsten fünf Jahre sicher nicht nach Deutschland kommen wird. Davon abgesehen überzeugt der rein elektrische SUV aus China durch Fahrspaß, erstaunlich gute Verarbeitungsqualität und hohe Alltagstauglichkeit. Beim Preis von maximal 66.000 Euro (ohne Steuer) ist er den deutschen Premium-E-Autohersteller schon mal voraus.

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Erscheinungsdatum 26.09.2024

148 Seiten